Die Vielfalt neurologischer Erkrankungen ist riesig und oft müssen Spezialisten lange suchen, um herauszufinden, woran ein Patient leidet. Immer wieder treffen Ärzte auf Patienten mit unspezifischen neurologischen Beschwerden. Die Differenzialdiagnostik ist dabei entscheidend, um eine mögliche Therapie für die Erkrankten zu finden. Auch wenn es einen Verdacht gibt und Hinweise in eine Richtung deuten, sind Ergebniskonstellationen nicht immer eindeutig oder spezifisch genug für eine zweifelsfreie Diagnose, sodass Ärzte erst in der Gesamtschau aller diagnostischen Ergebnisse eine plausible Befundaussage treffen können. Wie bei Elisabeth:
Die 73-jährige Frankfurterin* suchte aufgrund nächtlicher Rücken- und Kopfschmerzen in Verbindung mit leichter Fazialisparese, allgemeiner Erschöpfung und einer Episode von leichtem Fieber ihren Hausarzt auf. Im Anamnesegespräch berichtete Elisabeth, dass sie sich normalerweise durchaus fit fühle und ihren Lebensalltag daher noch sehr aktiv gestalten könne. Sie sei viel im Wald spazieren und kümmere sich um ihren großen Garten. Elisabeths häufige Aufenthalte in der Natur und ihre Symptome ließen den initialen Verdacht aufkommen, dass sie sich durch einen unbemerkten Zeckenstich mit Borrelien infiziert und daraufhin eine Neuroborreliose entwickelt haben könnte. Für die labordiagnostische Untersuchung wurden ihr Blut (Serum) und Liquor entnommen.
Bei der visuellen Betrachtung der Liquorprobe zeigte sich eine unauffällige, klare Flüssigkeit. Jedoch konnte eine Erhöhung der Zellzahl festgestellt werden. Diese sogenannte Pleocytose ist ein erster Hinweis auf einen akut-entzündlichen Prozess des zentralen Nervensystems (ZNS). Neben der Zellzahlbestimmung wurden die Proteinwerte im Liquor und Serum ermittelt. Auf Basis der Bestimmung des Albuminquotienten konnte im Reiber-Diagramm eine Blut-Liquor-Schrankenfunktionsstörung beobachtet werden, die ein Hinweis für eine krankheitsbedingte Anreicherung von Proteinen im Liquor ist. Sie ist ein typischer, aber nicht spezifischer Befund für eine Neuroborreliose, da sie auch bei anderen Erkrankungen mit neurologischen Symptomen auftritt. Des Weiteren war eine intrathekale Synthese von Gesamt-IgM, aber nicht von Gesamt-IgG zu sehen. Diese IgM-Dominanz im Reiber-Diagramm ist ein weiteres Indiz für eine Neuroborreliose. Bei der Bestimmung oligoklonaler Banden wurden mehr Antikörper-Banden in der Liquorprobe als in der Serumprobe ermittelt. Oligoklonale Banden im Liquor treten typischerweise bei Neuroborreliosen auf, können aber auch bei anderen entzündlichen Erkrankungen des ZNS beobachtet werden (z. B. multiple Sklerose).
Zur weiteren Bestätigung der Verdachtsdiagnose wurde ein Wert für die erregerspezifische Antikörperproduktion im Liquor ermittelt: der Antikörperindex (AI). Zur Berechnung wurden die Ergebnisse der Anti-Borrelia-ELISA (IgM und IgG) für das Serum-Liquor-Probenpaar herangezogen. Für IgM wurde unerwarteterweise ein unauffälliger AI berechnet. Die IgM-Antikörper in der Serumprobe deuteten jedoch auf eine frische Borrelien-Infektion hin. Für IgG konnte kein AI berechnet werden, da in der parallel zur Liquorprobe entnommenen Serumprobe keine Anti-Borrelia-IgG-Antikörper nachweisbar waren und somit der Bezugswert für die Berechnung des AI fehlte. Da IgG-Antikörper in der Regel erst einige Wochen nach Ansteckung produziert werden, kann es vorkommen, dass in den Frühphasen einer Infektion noch kein AI berechnet werden kann.
Aufgrund der ungewöhnlichen und nicht eindeutigen Ergebniskonstellation war der Nachweis des Chemokins CXCL13 im Liquor sinnvoll. Bei Elisabeth konnte eine deutlich erhöhte Konzentration des Botenstoffs detektiert werden. Dies bekräftigte den Verdacht einer akuten Neuroborreliose, denn gerade in akuten, unbehandelten Fällen ist der CXCL13-Wert sehr hoch. Darüber hinaus ist CXCL13 ein aussagekräftiger Marker zur Beurteilung des Therapieerfolgs. So auch erkennbar an den gesunkenen Ergebnissen bei der Folgeuntersuchung der Patientin:
CAVE: Für die Diagnose einer akuten Neuroborreliose müssen grundsätzlich die Symptomatik und zusätzliche klinische Liquorbefunde berücksichtigt werden, da die CXCL13-Konzentration auch bei anderen entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems erhöht sein kann.
Im Liquor hatten sich Zellzahl sowie CXCL13-Konzentration nach zweiwöchiger Antibiose verringert und die Blut-Liquor-Schrankenfunktionsstörung zurückgebildet – allesamt Hinweise auf eine erfolgreiche Therapie. Die Diagnose „Neuroborreliose“ konnte im Nachhinein aufgrund der labordiagnostischen Folgewerte ebenfalls eindeutig bestätigt werden (IgG-Serokonversion, pathologischer AI).
Das Fallbeispiel von Elisabeth stellt eine individuelle Ergebniskonstellation dar. Es gibt eine Vielfalt weiterer möglicher Kombinationen von Hinweisen, die in der Zusammenschau maßgeblich für die Diagnose einer neurologischen Erkrankung sind. Wenn z. B. keine infektiöse Ursache für akute neurologische Symptome gefunden wird, kann der Fokus für die weitere Differenzialdiagnostik auf der Analyse von Autoantikörpern gegen neuronale Zielantigene gelegt werden. Dies kann helfen beispielsweise Autoimmunenzephalitis von ZNS-Infektionen abzugrenzen, was aufgrund der sehr unterschiedlichen Behandlungsschemata von autoimmun- und infektionsbedingten neurologischen Erkrankungen entscheidend ist.
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*Name und persönliche Daten von der Redaktion geändert
Glossar
Intrathekale Antikörper: Antikörper, die im ZNS gebildet werden.
Serum-Liquor-Paar: Isolierte Antikörper-Ergebnisse nur für den Liquor sind ohne Bezug auf die individuellen Blutwerte nicht aussagekräftig, da alle sich im Blut befindlichen Proteine durch Diffusion in den Liquor gelangen können. Daher sind die gleichzeitige Entnahme und Testung von Liquor und Serum notwendig.
Albuminquotient: Albumin ist ein Protein, welches im Gegensatz zu Antikörpern niemals im ZNS gebildet wird, sondern nur mittels Diffusion vom Blut in den Liquor gelangen kann. Aus diesem Grund ist der berechnete Quotient der Albuminkonzentrationen im Liquor und Serum ein geeignetes Maß, um die diffusionsbedingte Verteilung von Proteinen (z. B. Antikörper) bzw. krankheitsbedingte Veränderungen wie bei einer Blut-Liquor-Schrankenfunktionsstörung nachzuweisen.
Blut-Liquor-Schrankenfunktionsstörung: Eine Blut-Liquor-Schrankenfunktionsstörung, welche durch einen erhöhten Albuminquotienten (QAlb) charakterisiert ist, beruht auf einer krankheitsbedingten Reduzierung der Liquorflussgeschwindigkeit, wodurch es zu einer Anreicherung von Molekülen/Proteinen im Liquor kommen kann.
Reiber-Diagramm: Das Liquor/Serum-Quotienten-Diagramm wurde von Prof. Reiber entwickelt. Dabei wird der Immunglobulinquotient (QIg für IgG, IgM oder IgA) gegen den Albuminquotienten (QAlb) aufgetragen. Auf Basis bestimmter Referenzwerte lassen sich in der grafischen Darstellung eine Schrankenfunktionsstörung sowie eine intrathekale Antikörperproduktion auf einen Blick erfassen. Deren isoliertes oder kombiniertes Auftreten geben wiederum Hinweise auf eine zugrundeliegende Erkrankung.
Antikörperindex (AI): Ist ein Wert zur Identifizierung einer zusätzlichen Produktion von spezifischen Antikörpern gegen einen Infektionserreger im Liquor (intrathekale Antikörpersynthese). Um zwischen diffundierten und intrathekal gebildeten Antikörpern unterscheiden zu können, wird der erregerspezifische Liquor/Serum-Antikörperquotient mit dem Liquor/Serum-Quotienten des jeweiligen Gesamtimmunglobulins (IgG, IgM oder IgA) ins Verhältnis gesetzt. Ist der erregerspezifische Quotient größer als der Gesamtimmunglobulinquotient (AI>1,5), geht man von einer erregerspezifischen Antikörpersynthese im ZNS aus.
Oligoklonale Banden: Bei der isoelektrischen Fokussierung werden Antikörper im elektrischen Feld entlang eines pH-Gradienten aufgetrennt. Sie wandern in Abhängigkeit von ihrer Nettoladung unterschiedlich weit (bis zu ihrem isoelektrischen Punkt) und erscheinen nach Anfärbung als Banden. Sind Antikörper-Banden in der Liquor-Fraktion zu sehen, die im Serum nicht erscheinen, ist eine intrathekale Synthese und somit eine entzündliche Reaktion im ZNS wahrscheinlich.
Chemokine: Dies sind chemotaktisch wirkende Zytokine, d. h. Signalproteine, die verschiedene Immunzellen zu einem Entzündungsherd locken.