Ein erschütternder Fall

Gastbeitrag:

14. Beitrag der Artikelreihe: Moderne Mykologie in der Dermatologie

von Herrn Prof. Hans-Jürgen Tietz, Leiter des Instituts für Pilzkrankheiten, Berlin

 

Kürzlich erreichte mich der folgende Brief einer Familie aus L.:

Unser 6-jähriger Sohn ist häufig auf dem Vollerwerbsbauernhof seiner Großeltern. Dort hat er sich den Kopf gestoßen. Es bildete sich eine große eitrige Stelle. Im Krankenhaus ist er daraufhin von Kinderchirurgen 3x operativ behandelt worden. Die Dermatologie hat sich den Fall mitangeguckt und Pyoderma gangraenosum diagnostiziert. Er bekam daraufhin Kortison und Antibiotika. Es bildeten sich jedoch neue Stellen auf dem Kopf. Das Krankenhaus wollte nach Weihnachten wieder operieren und das Kortison erhöhen. Wir sind am 27.12.2021 auf eigene Verantwortung nach M. in die dermatologische Unihautklinik gefahren. Dort haben sie tiefe Trichophytie festgestellt. Er bekam als Saft Fluconazol und eine Salbe mit Ciclopirox. Seitdem geht es ihm deutlich besser und es heilt alles ab. Allmählich wachsen auch wieder Haare nach. Leider nicht an der Stelle, die operativ behandelt wurde.

Abb. 1: Tinea capitis trichophytica profunda bei einem 7-jährigen Jungen nach mehrfacher chirurgischer Behandlung.

Derartige Berichte sind kein Einzelfall: Skalpierungen sind leider alles andere als selten (s. Fall in Abb. 1). Sie legen zugleich offen, wie mangelhaft das Wissen um die Mykosen noch immer ist. Nur im günstigsten Fall wird spätestens mithilfe des OP-Materials eine mikrobiologische Diagnostik durchgeführt und im Falle eines positiven Befundes das Herangehen überdacht sowie eine antimykotische Therapie eingeleitet. Nach M. zu reisen war also eine goldrichtige Entscheidung der Familie, die Wahl von Fluconazol und Ciclopirox an der dortigen Uniklinik ebenso. Denn Fluconazol gelangt in die Haarfollikel und ist zudem wasserlöslich, was die Verteilung fördert. Ein außerdem für die Therapie der Tinea capitis günstiger Umstand: Es kann auch an und in Haaren nachgewiesen werden, obwohl sich dort kein Wasser befindet. Ciclopirox wiederum ist breit und direkt sporozid wirksam: eine perfekte Synergie aus lokaler und systemischer Therapie.

Auch die diagnostischen Möglichkeiten bei den Mykosen haben sich in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt, vor allem dank der präzisen und schnellen Gendiagnostik (PCR). Ein Paradebeispiel dafür, wie enorm wertvoll sie sein kann, ist die Kälberflechte, deren Erreger, T. verrucosum, extrem langsam wächst. Erst nach Wochen entstehen kleine Kolonien auf den Nährböden (Abb. 2, links). Die PCR dagegen ist binnen 48 Stunden positiv (Abb. 2, rechts).

Abb. 2: Der Erreger der Kälberflechte, nach 5-wöchiger Inkubation auf einem Pilzagar (links) und innerhalb von zwei Tagen ermittelt im EUROArray Dermatomycosis (rechts)

Doch was nutzt der diagnostische Fortschritt, wenn man in der Anamnese bei Eiter auf dem Kopf und Rindern nicht an eine Mykose denkt? Es war ein Trugschluss, als ich dachte, man brauche keine Pilzseminare mehr und dass ich mich nach den ersten wieder stattfindenden postcoronalen Präsenzveranstaltungen mit Kulturen und Mikroskopen diesbezüglich allmählich zur Ruhe setzen könne. Wie wichtig es aber ist, auch in Fortbildungen weiterhin für den Kampf gegen die Mykosen einzusetzen, zeigt in exemplarischer Weise das Schicksal des hier vorgestellten kleinen Patienten. Die Aus- und Fortbildung muss deshalb intensiviert werden! Wie wäre es mit einem Lehrstuhl für Mykologie an jeder Universität, mit Vorlesungen über medizinische Pilzheilkunde oder Podcasts über Pilze? Denn die Infektiologie besteht aus mehr als nur Viren und Bakterien.

Doch zurück zur Kälberflechte: Wie manche Kollegen wissen, bin ich in Zipsendorf bei Meuselwitz auf das Gymnasium gegangen, einer dörflichen Idylle in Thüringen. Ich erinnere mich noch gut an Schilder am Ortseingang der Gemeinden, worauf mit Stolz stand: „Gemeinde frei von Rindertrichophytie“. Tatsächlich waren damals alle Kälber geimpft, mit einem hochwirksamen Lebendimpfstoff, wodurch die Kälberflechte als nahezu ausgerottet galt. Nach der Einheit erholte sich jedoch der Erreger vom Stress dieser Maßnahme und die schwierige Infektion lebte auch im Osten wieder auf.

Wenn man unseren 6-jährigen Patienten betrachtet: Wie wäre es mit einer wiedereingeführten Impfpflicht für Kälber? Die Zeichen dafür stehen gar nicht so schlecht, steht doch an der Spitze des Robert-Koch-Instituts derzeit ein Tierarzt. Die Impfung der Rinder ergibt tatsächlich auch immunologisch Sinn, da T. verrucosum der einzige Pilzerreger unter den Dermatophyten ist, der bei 37 °C besser wächst als bei Zimmertemperatur und somit tiefer ins Gewebe eindringen kann, Lymphknoten anschwellen lässt und dadurch das Immunsystem aktiviert, was bei einem T. rubrum im Nagel oder einer M. furfur auf der Hautoberfläche nie der Fall ist.

Leider hinterlässt die Infektion gelegentlich Narben auf der Haut, wie die Unterarme von Melkern und Rinderzüchtern belegen, darunter Politiker wie Herr Gysi, der sogar damit kokettiert, früher einmal diesen ehrenwerten Beruf gehabt zu haben.

Hoffen wir von Herzen, dass bei unserem Patienten die Narben am Kopf heilen und die Haare auch an den operierten Stellen wieder wachsen werden, und sei es durch eine spätere Substitution. An Tapferkeit hat es dem kleinen Kerl bislang jedenfalls nicht gemangelt, wie ich von den Eltern erfuhr.

Mit lieben Grüßen
Ihr dieses Mal sehr nachdenklicher Hans-Jürgen Tietz

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